Die Welt begehrt derzeit vorwiegend materielle Güter. Besitz und Wohlstand stehen überall im Vordergrund. Dieser Aspekt hat eine weltübergreifende und absolute Priorität; einen Wert, um den zu kämpfen, erscheint allen Kontinenten unverzichtbar. Kein Mittel darf hierfür fehlen: Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Technologien, das Militär und selbst die Schule werden mobilisiert, um den Kampf um die knappen und vielversprechenden Ressourcen zu gewinnen. Auf der anderen Seite leben wir in einer Welt, in der die Staaten und ihre Bildungseinrichtungen für die Frage, wie sich zwischenmenschlichen und zwischenweltlichen Beziehungen qualitätsvoller gestalten lassen, Tag für Tag gleichgültiger, besser: unqualifizierter werden.
Die Krise ist perfekt
Die Qualität der Beziehungen ist derzeit schlecht: Erstens leben wir in einer Welt der sozialen und politischen Gleichgültigkeit. Zweitens leben wir in einer Welt, in der die Menschen mit dem, was sie begehren, sich gänzlich verfügbar machen wollen. Ein Umstand, der – wie Hartmut Rosa in seinem Buch „Unverfügbarkeit“ beschreibt – dazu führt, dass uns die Welt und das, was mir mögen oder lieben, Tag für Tag fremder wird. Drittens leben wir in einer Welt, in der die Menschen das, was sie widrig finden, entweder äußerst wertrelativistisch oder eben aggressiv umgehen – wobei diese Aggressivität eine Art Frust ist, weil die Dinge, Menschen oder die Natur sich doch nicht gänzlich unter Kontrolle bringen lassen. Oft leisten sie bekanntlich Widerstand.
Zahlreiche Länder sind jedenfalls vollkommen intolerant und aggressiv, sie sind nicht in der Lage, an basalen völkerrechtlichen Vereinbarungen zu halten und stattdessen führen sie Krieg. Andere wiederum (vor allem aber nicht nur die USA) kolonialisieren alle Köpfe andauernd – und das, um sich materielle Vorteile und Positionen zu ergattern. Man könnte durchaus annehmen, dass die Wende der chinesischen Politik zur Marktwirtschaft und Konsum ebenfalls ein Produkt des amerikanischen Einflusses ist.
Bei uns und im westlichen Teil der EU ist alles noch ein bisschen anders. Hier genießt die Wertschätzung aller Werte (materieller und kultureller zugleich!) unvergleichbare Beliebtheit. Das hat Peter Sloterdijk in seinem Buch „Der Kontinent ohne Eigenschaften“ überzeugend dargestellt. Zwischen diesen Extremen gibt es seit Jahren praktisch nichts: Diplomatie, Toleranz, ja, der humanistische Blick auf die Welt ist im Verschwinden – jedenfalls aus der einflussreichsten Sphäre der Macht. Der aktuelle Weltzustand ergibt sich daraus automatisch: Alle Staaten fühlen sich von bösen Kräften plötzlich bedroht und klammern sich an den Mitteln des Kriegs. Wen wundert es?
Die Krise ist perfekt. Selbst KI erkennt das, obwohl sie ein angepasstes und politisch korrektes Ding ist. Sie ist einflussreich und in Effizienzfragen recht kompetent; eine Maschine, die von den mächtigsten Diskursen der Welt vollkommen determiniert ist, im Moment stärker als der menschliche Geist. Fragt man die KI zum Thema Zusammenleben, antwortet sie (je nach Anbieter) entweder gar nicht oder mit folgenden Worten: „Friedliches Zusammenleben ist nur möglich, wenn wir die Vielfalt der Ansichten und Lebensweisen akzeptieren“, sagte Googles KI vor etwa einem Jahr.
Die Suche nach der verlorenen Toleranz
Es gibt kaum einen Lebensbereich, der keine Transformation bräuchte. Die Toleranz ist keine Ausnahme. Sie bedarf ebenfalls einer Reform – wie beispielsweise K. P. Liessmann (Was nun?) und D. Precht (Das Jahrhundert der Toleranz) in ihren aktuellen Büchern beschreiben. Sie leidet unter zahlreichen Entgrenzungen, so wie noch einiges in der Moderne, wie der Philosoph Hans Schelkshorn (2016) in seinem gleichnamigen Buch überzeugend darlegte. Die heutige politische Toleranz ist in der Krise, weil sie meistens falsch verstanden wird. Aktuelle muss man mit der Lupe suchen, bis man (jenseits der Fachwelt) auf Menschen trifft, die sagen können, um was es dabei eigentlich geht. Die Mehrheit der Bevölkerung liberaler Gesellschaften glaubt, dass Toleranz ein Instrument der Wertschätzung sei. „Je mehr Phänomene ich wertschätze, umso toleranter bin ich: also ein, umso besserer Mensch.“
Am etablierten Pol des politischen Feldes ist es nicht anders, und auf dem aufstrebenden Pol unserer Politik und in den autokratischen Ländern ist es haargenau umgekehrt: da lehnt man alles Fremde ab – gerade deshalb, weil die anderen alles wertschätzen. Das ist Politik. Im Grunde ist der Aufstieg rechter Parteien in diesem Umstand zu sehen. Doch beide liegen falsch. Denn moderne, nachhaltige, demokratiepolitisch relevante Toleranz sollte nämlich weder etwas ertragen noch alle „Identitäten“ wertschätzen, wie dies die etablierte europäische Sicht täglich verkündet. Sie sollte entweder auf einer auf stichhaltigen Argumenten fußenden Akzeptanz oder auf einer respektvollen, gut begründeten Zurückweisung von ungerechten oder ungerecht empfundenen Handlungen basieren. Man wäre also gut beraten, unter der Minimalanforderung der Toleranz Respekt zu verstehen. Respekt bedeutet, dass jeder Mensch, auch wenn er anders handelt und denkt, vor dem Gesetz gleich ist. Respekt ist die unterste Grenze der Toleranz. Intoleranz beginnt genau dort, wo Respekt endet.
Man sollte also endlich einsehen: Weil per Gesetz nicht alles geregelt werden kann, bleibt uns als Instrument der Konfliktregelung allein die Toleranz übrig. Und sie soll rechtlich abgesichert und sachlich ausfallen; sozial relevante Toleranz ist bitte nicht zu dulden, wir leben weder im Mittelalter noch in einer Diktatur. Moderne Toleranz ist Abwägen. Dazu braucht es allerdings ein Verfahren, ein präzises Instrument des fundierten Messens. Haben wir gute Gründe für unsere Akzeptanz oder Zurückweisung? Haben wir bei unserer Entscheidung allen Beteiligten die Möglichkeit eingeräumt, sich rechtfertigen zu können? Haben wir den anderen zugehört oder entscheiden wir über ihren Köpfen hinweg? Das sind doch wichtige Fragen.
Meta-Ursache der Krise
Für eine sachliche, respektvolle politisch relevante Toleranz gibt es im Alltag keine Mehrheit, und das ist ein Versagen der Medien- und der Bildungspolitik schlechthin. Wir können alle Schulbücher absuchen und finden leider keine einzige brauchbare Erklärung für Respekt und Toleranz – und das mit Sicherheit nicht nur hierzulande der Fall. Wir haben weltweit eine Bildungskrise, womit die Toleranz- und alle anderen Krisen zusammenhängen. Es wurde im Laufe der letzten 25 Jahre nämlich eine weltübergreifende kompetenzorientierte Pädagogik etabliert, und wichtig: ebensolche Konfliktmanagement aufgezwungen, die den Humanismus und unser Gespür für das Gute nicht in die Körper hinein, sondern aus unserer DNA hinausgetrieben hat.
Wenn das Meta-Problem des aktuellen Weltzustandes mit einem Wort benannt werden müsste, so müsste dieses Wort misslungene Bildung heißen.
Wenn die Macht der herkömmlichen europäischen Bildung, der Kunst und all das, was man Humanismus oder Menschlichkeit nennt, gegenüber der Macht des Geldes und alles, was man mit Geld verbindet, nicht sprunghaft an Bedeutung und Macht dazu gewinnt, wenn wir also den eingeschlagenen Weg der Umbildung zur Unbildung nicht hinter uns lassen, so wird es offenkundig böse enden. Mehr noch: Wenn das Sprichwort „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ nicht bald überdacht und die Reichweite des Humanismus nicht gesteigert wird, fährt der Zug sicherlich ohne uns, d.h. ohne Menschen ab – und zwar bald, für Pierre Bourdieu wäre dieser Weltzustand übrigens bereits 2030 erreicht.