„Ich glaube sie in einer Melodie nicht verfehlt zu haben, die mir jüngst in meinem bewegten Nachtleben, aus hundert fernen Bars herangetragen, trotz den schlechten Zeiten durch den Sinn zog, als Shimmysierung des angestammten Polkagemüts:
»Ach holde Pipsi,
mein Schatz, ich lieb’ Sie.«
»Sie Herzensdieb Sie!«
sagt drauf die Pipsi.
In dem Betrieb sie
kriegt zwar ’nen Schwips, sie
spürt doch, die Pipsi,
womit ich schieb. Sie
sagt gleich: »Ach gib!«, sie
hab’ mich nur lieb, sie
treu mir auch blieb’, sie,
nämlich die Pipsi.
Ich litt sehr und kann nur sagen: Trotz Marinetti (kein Pupperl, sondern ein Futurist), allen Kokolores von Expressionismus und Konstruktivismus zum Trotz: auf diesen Ton ist das mitteleuropäische Geistes- und Freudenleben seit ungefähr zwanzig Jahren gestimmt, der Tanzschritt wechselt, es ändert sich nichts, […]“. (Karl Kraus: Herz, was begehrst du noch mehr?. In: F. Heft 668–675, 12.1924 (Jg. 26) S. 26–27 (19– 29).)
Forschungsergebnisse: Karl Kraus wird in verbreitetem Ausmaß als konservativer Denker und Schriftsteller behandelt, das trifft jedoch nur zum Teil zu. Seine Zeitschrift Die Fackel ist nicht nur moderner, als sie üblicherweise gesehen wird, sondern sie ist auch eine der ertragreichsten Fundstellen, an der die historische avantgardistische Literatur und avantgardistisches Theater studiert werden können. In der Frage der Beziehungen zwischen Kraus und dem Expressionismus, Kraus und der Avantgarde ist man sich zu Recht einig, dass er die Entstehung der Avantgarde in Österreich maßgeblich verhindert hat. Diese These trifft gewiss zu, wenn es darum geht, dass Die Fackel ab 1912 der jungen, bis vor Kurzem noch bei Kraus publizierenden kommenden Generation vorenthalten wurde. Sie ist jedoch problematisch, wenn man damit die Wirkung der von Kraus ausgehenden Kritik auf die avantgardistische Kunst meint. Denn vernichtende Kritik hat bekanntlich nicht oder nicht nur eine einschüchternde Wirkung auf die Betreffenden, sondern auch eine anspornende. Die Kraus’sche Kritik hat bei den „Neutönern“ – wie er die Radikalreformer ironisch nannte – zu einem nachweisbaren quantitativen Zuwachs der Produktion und möglicherweise auch zu einer qualitativen Wertsteigerung ihrer Produkte geführt. Karl Kraus trug also gewiss nicht nur zur Verhinderung der Avantgarde, sondern auch zu ihrer Stärkung bei. Hauptquelle: die Zeitschrift Die Fackel, 1899–1936, Wien
Methode: Die digitale Ausgabe der Fackel wurde durch zahlreiche Begriffe, die dem Vokabular der Avantgarde angehören, gefiltert.
Ausblick: Eine der weiterführenden Fragen, die man allerdings erst in Kenntnis aller einschlägigen Bezüge zur Avantgarde angehen kann, müsste eigentlich lauten: Gibt es Elemente, und wenn ja, dann welche, im Gesamtwerk von Kraus, die dem Futurismus oder dem Dadaismus zuzuordnen wären? Und auch ob manches in diesem Werk wenn schon nicht der etablierten, so doch jener österreichischen Avantgardekunst zuzurechnen sei, die man mittlerweile in der Architektur von Josef Frank, in der Musik Josef M. Hauer sowie in der bildenden Kunst der Czicek-Schule verortet hat.