Wir brauchen eine neue, moderne und aufgeklärte Haltung der Migration gegenüber
Wir kennen noch nicht alle Fakten über den Magdeburger Attentäter. Aber wir wissen: Der aus Saudi-Arabien eingewanderte 50-jährige Mann ist ein Sympathisant der AfD und ein radikaler Gegner des Islams. Nur ist nicht etwa eine Moschee Ziel seiner Tat, sondern ein Christkindlmarkt. Er rast mit einem Auto in die Menge und tötet sechs unschuldige Menschen.
Der Mann nimmt vermutlich an, dass alle, die sich am Christkindlmarkt aufhalten, „Deutsche“ sind. Genauer: Personen, die Zuwanderern mit großer Wertschätzung begegnen, im Sinne der hinlänglich bekannten – und, wie sich herausstellen wird, dem mutmaßlichen Täter zutiefst verhassten – postmoderne Toleranz und wertschätzende Willkommenskultur. Er übersieht dabei, dass an dem Ort Menschen verschiedenster Gesinnung die Vorweihnachtszeit genießen, nicht nur jene, die seinem Feindbild entsprechen.
Die große Frage
Warum begeht ein vor vielen Jahren zugewanderter Psychiater – abgesehen von seiner psychischen Verfasstheit – einen solchen Mordanschlag? Was ist der Hintergrund? Die Fragen geben vielen Menschen – auch Fachleuten – Rätsel auf.
Der Terrorexperte Matthias Quent sprach am 21.12. im ZDF von einem „individuellen Menü“, dessen sich der Attentäter zur Ausführung seiner Todesfahrt bedient hätte. Doch das als „mysteriös“ geltende Attentat hängt mit den in der Bevölkerung und im politischen Feld verankerten Toleranzmustern zusammen. Daher ist der Fall alles andere als singulär. Die Haltung des Attentäters lässt sich eindeutig im Paradigma des politischen „Leitkulturansatzes“ verorten.
Toleranzhaltung
Toleranz ist eine Einstellung, die als Mittel zur Verhinderung der Gewaltspirale ausgedacht wurde. Mit der umfassenden Theorie von Rainer Forst lassen sich vier Konzeptionen von Toleranz unterscheiden. Das sind: Die (a) Erlaubnis-, (b) Koexistenz- (c) Respekt- und (e) Wertschätzungs-Konzeption. Die Konzeptionen sind unterschiedlich begründet und lassen sich auf einem Kontinuum von schwacher, duldender bis starker, wertschätzender Anerkennung anordnen. Sie betreffen die Art und Weise, wie wir mit Einstellungen und Handlungen von Personen, Gruppen und Gesellschaften umgehen, die wir störend finden oder mit denen wir im bitteren Konflikt stehen.
Die historisch älteste Toleranzform ist (a) die Erlaubnis-Konzeption. Sie steht dem „Leitkulturansatz“ nahe. Höchstens duldet sie das, was sie störend empfindet, und sie wird von der politischen Macht festgelegt.
Die (b) Koexistenz-Konzeption ist wechselseitig und pragmatisch begründet, aber sie ist instabil, da sie auf einem Kompromiss beruht und keine stabilen sozialen Zustände schafft. Sind jedoch etwa die ideologischen Unterschiede zwischen zwei Gruppen oder Systemen besonders groß, so ist diese Toleranzform die einzige Möglichkeit, Krieg zu vermeiden.
Die (c) Respekt-Konzeption geht von der moralischen Achtung der Individuen oder Gruppen aus, unabhängig von ihren unterschiedlichen ethischen Überzeugungen und kulturellen Praktiken. Es gibt zwei Modelle: die formale Gleichheit und die qualitative Gleichheit. Die formale Gleichheit unterstützt die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum, während die qualitative Gleichheit die Berücksichtigung ethischer Präferenzen auch im öffentlichen Raum beinhaltet.
Das Modell der qualitativen Gleichheit steht für eine pluralistisch-liberale Toleranz und hat unter den genannten Toleranztypen den höchsten Gerechtigkeitsfaktor. Es ist offenkundig nachhaltiger und demokratischer als alle anderen Konzepte. Besonders einleuchtend lässt sich dies in der vom Sozialpsychologen Bernd Simon vor einiger Zeit gelieferte Definition des Respekts zeigen. Demnach „muss jede Antwort der Gesellschaft […], die nicht auf Toleranz im Sinne der Anerkennung von abgelehnten Anderen als andersartigen Gleichen“, sprich auf Respekt „hinausläuft, ihr Ziel verfehlen und schließlich den Weg für Eskalation und sogar Radikalisierung ebnen.“
Die (d) Wertschätzungs-Konzeption ist eine Form der Toleranz, die neben dem Respekt für andere kulturelle oder religiöse Gemeinschaften auch deren Überzeugungen als ethisch wertvoll betrachtet.
Wie die anderen Konzeptionen existiert auch die multikulturalistische Konzeption nicht nur auf dem Papier, sondern findet sich praktisch überall, auch in der Politik. Aus eigenen Studien wissen wir, dass die Präferenz der skizzierten Typen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Hier reicht darauf hinzuweisen, dass der rigorose Typus „a“ von rund 22 Prozent und der großzügige Typus „e“ von rund 45 Prozent der Befragten präferiert wird. Und die sachlichsten und gerechtesten Typen („c“ und vor allem „d“) gerade Mal 16 bzw. 12 Prozent erreichen.
Abbildung 1 (N = 1082, Alter 14-47)
Kämpfe um die richtige Toleranzhaltung im politischen Feld
Das politische Feld ist ein Raum, in dem alles, was die Wählerschaft bewegt, überspitzt und emotionalisiert wird. So auch sämtliche Toleranzhaltungen der Bevölkerung. In allen pluralistischen Demokratien findet daher seit langem nicht zwischen vier, sondern zwischen zwei Extremen ein bitterer Kampf statt: zwischen jenen, die (d) einen im Paradigma des Multikulturalismus stehenden Toleranztypus vertreten, und jenen, die eine (a) streng autoritäre Leitkulturmentalität (Erlaubniskonzeption) präferieren, das heißt, totale Anpassung der Zuwanderer verlangen. Die Etablierung dieser „häretischen“ Position ist ein großes Anliegen einiger politischer Kräfte, vor allen Dingen von Trump und Orbán.
Österreich und Deutschland
Der identitären Leitkulturmentalität kommt derzeit weder in der Bevölkerung noch im politischen Feld Deutschlands und Österreichs eine dominierende Position zu – das kann sich aber mit dem Vormarsch rechter Parteien ändern. Der dominante Pol des politischen Feldes vertritt im Großen und Ganzen den Multikulturalismus, also eine großzügige und humane Toleranzhaltung gegenüber Zuwanderern. Diese politische Einstellung, die (ca. seit den 1990er Jahren) allseits sehr gelobt wird, löst aber bei immer mehr Menschen (gleich welcher Herkunft) Widerstand aus. Zunehmend generiert sie Gruppen, die kaum mehr bereit sind, Dinge, die sie als störend empfinden, (c) respektvoll und argumentativ (etwa in Anlehnung an die universellen Menschenrechte) zurückzuweisen. Stattdessen ruft sie Überreaktionen und immer mehr Gewalt sowie Rechtspopulismus hervor – der Attentäter von Magdeburg ist ein extremes Beispiel für eine solche Überreaktion seitens der Bevölkerung.
Wir dürfen vermuten, dass der Frust über die etablierte Integrationspolitik diesen mündigen, offenbar als „integriert“ geltenden Arzt einen merkwürdigen Deutschlandhass hat entwickeln lassen, der in einer Brutalität hervorbrach, die das, was wir in den letzten Jahren im Kontext der „klassischen“ identitären und rechtsextremen Szene gesehen haben, bei weitem übersteigt. Vermutlich ist er überhaupt der Erste, der gegen die im Paradigma des Multikulturalismus stehenden, (e) postmodernen Integrationspolitik ein großes Attentat begeht. Der Fall zeigt außerdem, dass Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus längst nicht mehr nur in der Mehrheitsgesellschaft verankert sind, sondern auch unter jüngst eingewanderten Personen.
Was wir daraus lernen können
Der tragische Vorfall, dieser furchtbare mehrfache Mord, zeigt längst Überfälliges: Die politische Haltung der Alles-ist-Legitim-Mentalität Deutschlands und Österreichs sollte grundlegend überdacht werden. Es geht darum, eine stabile, selbstbewusste politische Haltung zwischen rigoroser Leitkulturmentalität und unreflektierter Willkommenskultur einzunehmen. Sprich, endlich eine Toleranz zu praktizieren, die weder etwas mit (er-)dulden zu tun hat noch mit entgrenzter Wertschätzung.
Denn: Moderne Toleranz ist entweder die auf stichhaltigen Argumenten basierende Akzeptanz oder die auf Argumenten und Respekt basierende Zurückweisung von störend/ungerecht empfundenen Handlungen.