Lernen wir Toleranz! Aber richtig – ein Plädoyer für eine Toleranz der Mitte

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Zuerst als „Gastkommentar“ am 28.11.2023 erschienen (Die Presse)

Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht. Ich werde jedenfalls Tag für Tag unruhiger, wenn es um den Krieg in der Ukraine, um die brutalen kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten sowie deren Auswirkungen auf die ganze Welt geht. Beinahe täglich höre oder lese ich dazu den Satz: „Es ist sehr kompliziert!“ – Ist es das wirklich? Oder haben wir in den vergangenen 20 Jahren zu sehr auf die Akkumulierung von wachstumsorientierten Fachkompetenzen fokussiert und dabei jegliche Aspekte des gelingenden Lebens, also die Kunst des Zuhörens und der Toleranz, verlernt?

Erinnern wir uns! Toleranz ist eine Einstellung, die als Mittel zur Verhinderung der Gewaltspirale ausgedacht wurde. Sie erlaubt eine Antwort auf die Frage, wie wir mit Personen, Gruppen oder Systemen umgehen, die wir nicht unbedingt mögen oder mit denen wir im bitteren Konflikt stehen.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass aggressive Konflikte und Gewalttaten in der Schule, in der Familie und in der Welt Tag für Tag zunehmen, so müsste uns auffallen, dass etwas mit unseren Toleranzhaltungen nicht stimmt. Nirgendwo. Und definitiv nicht im ehemaligen Ostblock sowie im Nahen Osten. Wie sehen nun die gängigen Toleranzformen in unserer liberalen Welt aus?

Ratlosigkeit oder Schweigen

Ein bedeutender Anteil der Menschheit ist entweder intolerant oder praktiziert unzulängliche Toleranzformen. Denn wenn es darauf ankommt, stichhaltige Gründe der Akzeptanz oder Ablehnung zu benennen, herrscht Ratlosigkeit. Und (oder) Schweigen. Viele wissen einfach nicht, wie sie ihre Haltungen argumentieren sollen.

Es ist scheinbar nicht hinlänglich bekannt, dass die Grenzen der Toleranz nach oben und unten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sind. Doch anstatt sich daran zu halten, werden drei Formen der Toleranz herangezogen, deren Nachhaltigkeit äußerst fragwürdig ist.

Eine dieser Toleranzweisen steht im Paradigma der politischen „Leitkultur“: Sie erlaubt Minderheiten praktisch nichts. Für Österreich (und vermutlich auch für Deutschland) lässt sich aufgrund der bisherigen Datenlage diese Erlaubnistoleranz auf 20 bis 30
Prozent schätzen.

Eine weitere Toleranzform ist die friedliche Koexistenz stark abweichender Wertevorstellungen. In Österreich wird sie von geschätzten sechs Prozent der Bevölkerung präferiert.

Und drittens wendet man besonders gern die im Paradigma des Multikulturalismus stehende Wertschätzungstoleranz an. Dabei werden beinahe alle bestehenden Wertvorstellungen unreflektiert willkommen geheißen. Für Österreich lässt sich der Anteil derer, die diese Form bevorzugen, auf 40 bis 45 Prozent schätzen.

Der zuletzt beschriebene Toleranzraum ist besonders für Deutschland und Österreich typisch. Er wurde maßgeblich durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufen. In anderen liberalen Ländern Kerneuropas verhält es sich mit diesem Raum wohl ähnlich, wahrscheinlich ist die Wertschätzungstoleranz dort aber etwas geringer ausgeprägt.

Zu viel „Identität“ im Osten

In den übrigen Ländern der Welt hingegen, und zwar überall dort, wo keine Demokratie oder ein illiberales politisches System etabliert ist, haben wir es mit einem völlig anderen Toleranzraum zu tun – mit einer beinahe spiegelverkehrten Situation: In diesen Ländern gibt es auf der politischen Ebene keine Willkommenskultur. Die gängige politische Vorgehensweise dieser Länder ist die im Paradigma der „Leitkultur“ stehende Toleranzhaltung. Hier ist die eigene nationale oder religiöse „Identität“, ein „Nur wir allein“, mehrheitsfähig. Diese Art von „strenger“ politischer Toleranz ist, zumal in schwächerem Ausmaß, auch in westlichen Ländern vorhanden bzw. im Au’ommen begriffen.

Die für undemokratische und zum Teil auch illiberal geführte Länder progressivste politische Toleranzhaltung ist die friedliche Koexistenz – mehr gibt es in diesen Systemen nicht!

Um kriegerische Konflikte zu vermeiden (oder beizulegen), sollten, im Sinne dieser Konzeption, alle beteiligten Parteien (Mehrheit, Minderheit oder wer auch immer sich gerade in einer Auseinandersetzung befindet) ihre jeweiligen ideologischen Überzeugungen aus pragmatischen Gründen zurückfahren. Wenigstens vorübergehend. In den genannten repressiven Systemen funktioniert im Moment selbst diese recht einfache, bloß ein bisschen Pragmatismus abverlangende Toleranzhaltung nicht. Das Zurückfahren kriegerischer Ideologien will derzeit nicht gelingen. – Aber warum?

Gewiss spielt die stärker gewordene Identitätspolitik dabei eine große Rolle. Identität ist ein Begriff, der Menschen und Gruppen, die ihn für wichtig halten, unter Druck setzt und gegeneinander au(etzt. Identität kann nichts anderes sein als bloße Behauptung: „Ich will so sein wie keiner“ oder umgekehrt: „Ich will so sein wie die anderen.“ Die Identität stellt sich damit als eine der misslungensten Orientierungshilfen der Menschheit dar; eine, die zahlreiche gewaltsame Konflikte und Kriege verursacht hat und das weiter tun wird.

Das Problem liegt dabei aber gar nicht so sehr in der Existenz dieses Begriffs. Es liegt vielmehr in der ungerechtfertigten Wichtigkeit, welche ihm beigemessen wird. Identität steht derzeit für zu viele Menschen und Kulturen an oberster Stelle. Doch nationale, religiöse etc. Identität ist in Wirklichkeit etwas Sekundäres. Sie sollte jedenfalls weit hinter dem eigentlichen Inhalt und der Form unserer Handlungen stehen.

Es ist eine Tatsache: Überall, wo nicht mit der Karte des biologistisch ausgelegten Herkunftsnarrativs gespielt wird, gibt es auch keine „Kulturkämpfe“.

Ernst, aber nicht hoffnungslos

Dass die Ukraine und Russland oder die Hamas und Israel in absehbarer Zeit respektvoll aufeinander zugehen und auf der Basis demokratischer Grund- und Menschenrechte einen Kompromiss erzielen werden, ist eine Illusion. Wie könnte das auch anders sein? Schließlich gibt es selbst hierzulande bzw. in den Kernländern Europas derzeit keine stabile Mehrheit für eine rational-kritisch abwägende Toleranzhaltung und damit keine optimale Ausgangslage für gelingende zwischenmenschliche Beziehungen.

Wir haben zumal im Kontext der Schule – und höchstwahrscheinlich in der Gesellschaft insgesamt – eine „rechte“ (22 Prozent) und eine ausgeprägte „linke“ Toleranzhaltung (45 Prozent).

Schwache Toleranz der Mitte

Aber wir haben eine nur schwach ausgeprägte „Toleranzhaltung der Mitte“ (streng berechnet zwölf Prozent). Von Letzterer würden unsere Schule und Demokratie dringend deutlich mehr brauchen.

Mit Blick auf die friedliche Koexistenz sollte es doch möglich sein, wenigstens ein Nebeneinander von widersprüchlichen Systemen zu etablieren. Von Systemen, die auf den ersten Blick völlig konträr erscheinen, in mancher Hinsicht allerdings Gemeinsamkeiten aufweisen. Man darf nämlich nicht vergessen, dass Kriege und Kämpfe grundsätzlich dort am ehesten entflammen, wo es (latente) Überschneidungen in Positionen und Positionierungen gibt.

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