DIE WELT BRAUCHT DIE KULTURSCHAFFENDEN

Geld schlägt Kultur. Die Stimme des Intellekts ist viel zu leise, wenn sie dem ökonomischen Diskurs Paroli bieten will. 

(Zuerst erschienen als Gastbeitrag. Die Presse: 01.06.2025)  

Derzeit machen sich viele Menschen Sorgen um die Welt. Üblicherweise schiebt man die alleinige Schuld für die angespannte Weltlage den politischen Mächten zu. Für die einen sind die aufsteigenden rechten Parteien verantwortlich, für die anderen die etablierten Mitte-Links-Parteien. Doch diese Fokussierung auf die Politik ist zu einseitig, die wesentlichen Probleme rühren anderswoher.

Um den aktuellen politischen Kampf zwischen den etablierten und aufstrebenden Parteien etwas umfassender darzustellen, empfiehlt es sich, daran zu erinnern, dass das politische Feld nirgendwo auf der Welt autonom ist. Es ist nicht mehr so, dass dort kreative und wirkungsmächtige Ideen in die Welt gesetzt werden. Dafür ist jemand anderer zuständig: die Elite.

Die Elite beansprucht einen doppelt besetzten Raum, wie Pierre Bourdieu das Feld der Macht nannte. Es handelt sich dabei um ein weltübergreifendes Metafeld, dem sich in den letzten Jahren das Internet (KI und die gesamte Digitalisierungsbranche) als dritter Pol angeschlossen hat. Dieser einflussreiche Wissensraum prägt die Denk- und Handlungsweisen aller sozialen Felder (Politik, Wissenschaft, Kunst etc.) und aller Menschen. Wir alle sind dabei zwei übergeordneten Einflüssen ausgesetzt: dem starken Einfluss der Wirtschaft auf einer Seite und dem der der Kunst und Kultur auf der anderen Seite. Und zwar abhängig von unserem Bildungskapital und dem Ausmaß unserer Autonomie und Freiheit.

In diesem Machtfeld geht es um einen symbolischen Kampf. Intellektuelle wollen Legitimität dafür wecken, dass es im Leben nicht nur auf ökonomisches Kapital, Wohlstand und Geld ankommt, sondern auch auf sich gut anfühlende Mensch- und intakte Weltbeziehungen. Während die eine Seite Freiheit, Freude am Leben und selbst Frieden in geistiger, humanistisch geprägter Reife der Menschheit erblickt, sieht die andere Seite dasselbe im wirtschaftlichen Wachstum und Konsum.

Zu den Intellektuellen gehören bekannte Kulturschaffende, die durch ihre Werke und Stellungnahmen bedeutende öffentliche und politische Wirkung erzielt haben und unablässig erzielen – wie etwa Immanuel Kant, um nur ein Beispiel zu nennen. Zum ökonomischen Pol des Machtfelds gehören die reichsten Medien sowie politikwirksame Unternehmen und Menschen, wie aktuell beispielsweise Elon Musk und andere bedeutende Internet- und Technologiegiganten.

WORAN GLAUBT DIE WELT?

Wirft man einen summarischen Blick auf das Machtfeld, auf die Inhalte, die dort dominieren, so ist kaum zu übersehen, dass der ökonomische Diskurs und alles, was dazugehört, seine Reichweite in den vergangenen 25 bis 30 Jahren deutlich erhöht hat und derzeit die einflussreichste, global wirksame Macht geworden ist. Der intellektuelle Diskurs, ja der gesamten Humansektor sind weit abgeschlagen.

Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass homolog zu den beschriebenen Hierarchien weltweit und auch hierzulande ein verhältnismäßig geringes politisches Interesse an Kultur und ein starkes Interesse an wirtschaftlichem Wachstum besteht. Alle – gleich ob linke oder rechte Parteien beziehungsweise autokratische oder demokratische Staaten – sind sich in einer Frage einig: Die Welt kann am ehesten durch Wirtschaftswachstum und somit durch Konsum stabilisiert werden.

Am intellektuellen Pol des Machtfelds stellt sich die Wirklichkeit hingegen anders dar. Der Soziologe Hartmut Rosa sagt etwa: „Wir müssen ‚Zeitpolitik‘ zu unserem Anliegen machen [. . .]. Unsere Aufgabe besteht darin, über die Frage eines nicht der Wirtschaft und der Technik unterworfenen, durch einen paradigmatischen Wandel gekennzeichneten sozialen Fortschritts nachzudenken.“ (H. Rosa: „Beschleunigen wir die Resonanz!“, 2025, S. 69–70).

Ein neuer Konsens, der sich auf ein gelingendes Leben und auf Frieden konzentriert, zeichnet sich ab – mit einem noch wenig bekannten Ansatz: der Optimierung der Distanz zwischen Staaten, die sich nicht vertragen und Kriege führen. Dies ist eine Option, die es wert ist, erwogen zu werden. Es könnte eine vorübergehende wirtschaftliche Entglobalisierung und friedliche Koexistenz zur Folge haben. Unter der Überschrift „Kalter Frieden“ gibt es dazu bereits interessante Überlegungen.

Unabhängig davon ist es entscheidend, sich verstärkt mit der Beziehungsfähigkeit des Menschen auseinanderzusetzen und diese deutlich zu verbessern. Viele Kulturschaffende sind sich über die Bedeutung unserer Beziehungsfähigkeit einig. Dennoch hat man sie in der Politik schlichtweg übersehen. Man hat vor allem übersehen, dass Beziehungsfähigkeit etwas ist, das es zu erlernen gilt, und das vor allen Dingen in der Schule. Dort lernt man alles Mögliche, aber nicht Beziehungsfähigkeit. Wenn Menschen in einem bestimmten Umfeld sozialisiert werden und wirken oder „wenn ihre Köpfe aufeinander abgestimmt sind“ – wie Bourdieu sich eleganter ausdrückte –, nehmen sie die Werte und Produkte, die in ihrem sozialen Feld wirksam sind, als naturgegeben wahr.

WIE KANN MAN DIE WELT RETTEN?

Offenbar haben, so Erich Fromms These, nicht unsere Triebe (wie Freud annahm), sondern „die Erfordernisse des Wirtschaftens und Zusammenlebens einen so starken Einfluss auf die Einzelnen, dass es zu einer eigenen psychischen Strukturbildung kommt. Nur so lässt sich erklären, dass die Menschen das leidenschaftlich erstreben, was eine bestimmte Wirtschaft und Gesellschaft für ihr Funktionieren braucht – und dies dann, wenn das Erstrebte irrational ist, psychisch krank macht“. (R. Funk: „Erich Fromm und der Narzissmus“. In: „Philosophie Magazin“ 03/2025, S. 70.)

Das klingt erst einmal desillusionierend. Aber: Wenn in der Vergangenheit Denk- und Handlungsweisen der Menschen in eine von Fromm, Bourdieu, Rosa u. a. beschriebene fragwürdige Richtung gelenkt werden konnten, sollte es doch auch möglich sein, unseren bestehenden Habitus bzw. das kollektive Unbewusste, das tendenziell auf Gewinnmaximierung und Konsum getrimmt ist, anhand neuer Narrative schrittweise in die entgegengesetzte Richtung zu lenken: hin zu auf Kollaboration, Freiheit, Liebe etc. basierenden Mensch- und Welt-Beziehungen.

Der intellektuelle Diskurs ist dem ökonomischen derzeit deutlich unterlegen. Geld schlägt sozusagen Kultur und somit unsere Beziehungsfähigkeit. Warum? Weil die Stimme des Intellekts leise ist, wie Freud treffend sagte. In Wahrheit ist sie viel zu leise, und das deshalb, weil (weltweit) zu wenig Kulturschaffende (in Wissenschaft, Kunst, Bildung, Religion etc.) erkannt haben, dass sie stärker zusammenrücken und sich intensiver engagieren müssen, wenn sie dem ökonomischen Diskurs Paroli bieten wollen. Es gibt – um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen – für den Frieden keine andere Lösung als die Stärkung des universellen Humanismus. Dauerhafter Frieden ist möglich, aber nicht ohne diesen derzeit leider sehr leisen intellektuellen Diskurs. Und das ist tatsächlich nichts Neues, sondern „Schnee von gestern und Schnee von morgen“, um zum Abschluss den aktuellen und treffenden Buchtitel von Peter Handke ins Spiel zu bringen.

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