Krieg und Frieden im Lichte der Toleranz

(Der Artikel ist am 22.03.2022 in Wiener Zeitung als GASTKOMMENTAR von Zoltan Peter erschienen)

Die Welt befindet sich in einer unerhört akuten Krise, das weiß mittlerweile jede(r). Ein Krieg tobt in Osteuropa, und das kam nicht gänzlich unerwartet, es hat sich schon länger abgezeichnet. Doch auch die pluralistischen Demokratien sind in Gefahr, und zwar im doppelten Sinne: Sie sind von einer internen Implosion und von einer äußeren Aggression gefährdet, beide Kräfte sind antiliberal, undemokratisch und intolerant.

Hätte anhand von angemessenen Toleranzhaltungen, vor allem seitens der EU und der USA, der Krieg zwischen Russland und der Ukraine verhindert werden können? Welche toleranztheoretischen Optionen gibt es, die ein friedliches globales Zusammenleben stark abweichender Gesellschaftssysteme – wie beispielsweise jene Russlands und der Ukraine – am ehesten stützen könnten? Und was bedeutet Toleranz in sozialphilosophischer Hinsicht?

In Anknüpfung an den Politikwissenschafter und Philosophen Rainer Forst geht es in einer Toleranzhaltung um die Absicht, den zur Debatte stehenden Sachverhalt überhaupt erst verstehen zu wollen. In der Toleranzhaltung stehen wir – auf Grundlage unserer normativen oder moralischen Überzeugungen – diversen Handlungen, Personen oder Gesellschaften kopfschüttelnd und ablehnend gegenüber. Beruhen unsere Gründe der Ablehnung auf allgemeinen Normen der Gerechtigkeit, so handelt es sich dabei um eine tugendhafte Einstellung, die letztlich dazu da ist, Konflikte jeglicher Art friedlich zu lösen und Gewalt oder Krieg zu vermeiden.

Nur nützt das aktuell gar nichts: Mit Russland und der Ukraine stehen einander zwei Länder gegenüber, die einerseits (Russland) eine anti-westliche und anti-liberale sowie andererseits (Ukraine) eine liberale, pro-westliche Weltorientierung verkörpern. Bemerkenswert ist, dass es, während die Beziehungen Russlands zur EU und nicht zuletzt zu Österreich in den vergangenen Jahren aktiv betrieben und von einer durchwegs duldsamen Haltung begleitet wurden, zwischen den beiden Nachbarländern zu gar keiner Annäherung gekommen ist. Im Gegenteil.

  • Der ständige Kniefall vor der Intoleranz

Grundsätzlich lässt sich soziale Beziehung anhand des Begriffspaares Offenheit und Toleranz hinreichend fassen. Dafür ist es wichtig zu ermitteln, wofür Menschen oder Gesellschaften offen sind und mit welchen Argumenten sie etwas ablehnen oder dulden. Sowohl Personen als auch Gesellschaften können grundsätzlich demokratisch-nachhaltig oder relativistisch-kurzsichtig Dinge oder Menschen ablehnen oder tolerieren. Demokratisch-nachhaltig ist eine Toleranzhaltung, wenn deren Vertreter den gegebenen Unterschieden nicht ausweichen, sondern bestrebt sind, Unterschiede zu verstehen und die Grenzen der Akzeptanz möglichst klar und begründet festzulegen. Relativistisch-kurzsichtig ist eine Toleranz hingegen, wenn sie aus lauter Wertschätzung und Konfliktscheu nahezu alles akzeptiert.

Während also die nachhaltigere Respekttoleranz ihre Grenze entlang der Verletzung der demokratischen Grund- und Menschenrechte ansiedelt, zieht die postmoderne Wertschätzungstoleranz oft erst beim Ausbruch von Gewalt oder Krieg die Notbremse – also verantwortungsloserweise viel zu spät. Der jetzige Krieg zwischen der Ukraine und Russland resultiert zum Teil aus diesem „Zu spät“. Er ist mithin das Ergebnis einer relativistischen politischen und wirtschaftlichen Beziehung des Westens zu Wladimir Putins Russland.

Vielleicht geschah manches aus Unwissenheit und vor allem durch die Unterschätzung von Putins anscheinend grenzenlosem Gewaltpotenzial. Doch um das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen, begegnete Westeuropa den bestehenden Differenzen mit Putin wie auch den osteuropäischen illiberalen Tendenzen viel zu oft mit unhaltbarem Relativismus. Moralisch stimmig und nachhaltig wäre es gewesen, Ländern, die demokratische Grund- und Menschenrechte nicht einhalten, ja einfach auf sie pfeifen (wie etwa Afghanistan, China und Russland), mit einer nachhaltigeren Toleranz zu begegnen.

  • Koexistenztoleranz, basierend auf pragmatischen Interessen

Im Falle Putins bedeutet das, dass man schon beim ersten Zeichen der Intoleranz (etwa 2014 im Zuge der Einnahme der Krim) entsprechende Sanktionen hätte einführen müssen. Jedenfalls härtere und wohlüberlegtere, als man damals wohl auf Basis eines faulen, wirtschaftlich und ideologisch geleiteten Kompromisses aller EU-Staaten verhängte. Sanktionen müssen auf der Einhaltung demokratischer Grund- und universaler Menschenrechte basieren, die zwar nicht ewig gültig, aber im Moment unverhandelbar sind. Nur anscheinend nicht für alle Staaten der EU.

Dass die Ukraine und Russland mitten in diesem aggressiven, von Russland begonnen Krieg – oder in absehbarer Zeit – offen und in respektvoller Toleranz aufeinander zugehen und auf Basis demokratischer Grundrechte auch noch einen Kompromiss erzielen können, lässt sich wohl als Illusion betrachten. Doch mit Blick auf die Koexistenztoleranz, die nicht auf Normen und Werten basiert, sondern von pragmatischen Interessen, von einer Haltung des „Leben und leben lassen“ geleitet ist, könnte durchaus eine Möglichkeit auf ein friedliches Nebeneinander in Aussicht stehen.

Der Kalte Krieg lässt sich als eine langjährige Koexistenz-Beziehung zwischen dem damaligen Westen und dem seinerzeitigen Ostblock interpretieren und kann vermutlich einige Erfahrungswerte dazu bereitstellen. Dieses alte Modell – so die These – könnte nicht nur für die Lösung der Ukraine-Krise, sondern als entsprechende Vorlage für ähnlich gelagerte kriegerische Konflikte dienen, um die Komplexität und Krisenhaftigkeit der globalisierten Welt zu entschärfen.

  • Neue, symbolische Grenzen für ein friedliches Nebeneinander

Die ideologischen Unterschiede zwischen einigen Ländern sind dermaßen groß und scharf, dass ein demokratischer und respektvoller Austausch, ein faktenbasiertes (und nicht dogmatisches, identitäres) Pro und Kontra derzeit nicht möglich ist. Mehr noch: Der Versuch, etwa Russland oder China anhand von Normen der liberalen Demokratie oder der Nichteinhaltung der Menschenrechte in die Ecke drängen zu wollen, könnte derzeit besonders gefährlich werden. Warum? Weil es nicht nur um ideologische Unterschiede geht. Viel gefährlicher ist, dass alle großen Konfliktparteien der Erde entweder bis zum Hals bewaffnet und/oder Atommächte sind. Was sie verbindet (und zugleich trennt), ist ihr Wille zur Macht, ihr Wille zur Welteroberung.

Die Welt sollte daher, so die Überlegung, eher durch die Einrichtung von neuen, symbolischen Grenzen überschaubar und friedlicher gemacht werden. China und Russland – um nur zwei von vielen Ländern zu nennen – sind völlig unterschiedliche Systeme. Sie sind allerdings darin einig, dass für sie die liberale Demokratie keine Option ist. Im Unterschied zur bisherigen Praxis des Westens besteht die Idee nun darin, Ländern, denen die Qualitäten der liberal-pluralistischen Demokratie unattraktiv erscheinen, ab sofort nicht mit Überzeugungsarbeit, Aufklärung oder gar kriegerischer Bedrohung entgegenzutreten, sondern mit einer Haltung einer friedlichen Koexistenztoleranz.

Die Etablierung einer solchen Koexistenztoleranz – symbolisch eine Art „Gläserner Vorhang“ – zwischen demokratischen und undemokratischen Ländern scheint im Augenblick zielführender zu sein als alles andere. Es geht dabei nicht um die (Wieder-)Einrichtung des alten „Eisernen Vorhanges“, sondern um etwas Neues, Transparentes. Um ein vorübergehendes, auf Pragmatismus bauendes, friedliches Nebeneinander von sehr unterschiedlichen Systemen mit klaren (gemeinsam beschlossenen) Spielregeln. Die Etablierung einer übergeordneten Demokratie oder globalen Rechtsordnung, wie Immanuel Kant sie sich vorstellte, müsste zunächst nicht dazuzählen, aber sehr wohl die wichtigsten völkerrechtlichen Normen.

  • Eine moderne politische Respekttoleranz für die EU

Dieses Koexistenz-Modell kann freilich nur für globale Verhältnisse Gültigkeit haben. Für europäische Verhältnisse ist es nicht geeignet, die Etablierung von parallelen Systemen wäre hier der falsche Weg. Der Krieg in der Ukraine zeigt ganz klar: Der Weltfrieden ist nicht nur durch Intoleranz, Habgier, ununterbrochenen wirtschaftlichen Wachstumsdrang und kontinuierliche Beschleunigung aller Lebensbereiche bedroht. Die Welt wird auch durch einen Werterelativismus in die Enge getrieben, wie zahlreiche aktuelle Gesellschaftstheorien (zum Beispiel jene von Rainer Forst, Hartmut Rosa, Yuval Noah Harari, Andreas Reckwitz oder Markus Gabriel) längst deutlich gemacht haben.

In den pluralistischen Demokratien ist neben einer stark einschränkenden auch die Dominanz der beinahe unbegrenzten politischen Toleranz ein wesentlicher Faktor. Letztere ist vielleicht von besten humanistischen Gedanken und Erfindungen geleitet, aber manchmal schießt sie weit über das Ziel hinaus. Es handelt sich dabei um eine Einstellung, die mehr der Tradition der sozialen Romantik zugetan ist als jener der Aufklärung. Innerhalb der EU braucht es dringend eine moderne politische Respekttoleranz, also eine vernunftorientierte und nicht relativistisch angehauchte Einstellung. Und die Etablierung einer neuen, gründlich ausgearbeiteten politischen Koexistenztoleranz könnte die Konflikte einschränken, die auf globaler Ebene zwischen voneinander radikal abweichenden politischen Systemen bestehen.

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