Zwischen Resonanz und Entfremdung

Der Toleranzraum

Wenn wir die Gesellschaft als dreidimensionalen Einstellungsraum ins Auge fassen, so ist es unübersehbar, dass wir uns vorwiegend in einem Toleranzraum bewegen und wesentlich seltener in einem Resonanz- und Entfremdungsraum. 

Wünschenswert wäre es allerdings […], dass sich das Spektrum der Entfremdung und der Toleranz zu Gunsten der Resonanz so rasch wie möglich minimiert. Denn letztendlich wünscht sich niemand bloß eine Toleranzbeziehung. Niemand will also bloß geduldet werden und schon gar nicht möchte jemand unter entfremdeten, aggressiven und kriegerischen Verhältnissen arbeiten und leben. 

Doch machen wir uns nichts vor. Bei allem Optimismus und mit bester Utopie der Welt gewappnet, wird es niemals ein gelingendes menschliches Dasein geben, welches ohne Toleranz und ohne die Fähigkeit mit Nähe und Distanz angemessen umgehen zu können, geben. Daher ist es mehr als zwingend und notwendig – sofern ein friedliches Leben überhaupt angestrebt wird –, dass Menschen und Gesellschaften sich bezüglich Toleranzfragen halbwegs auskennen. 

Tanz der Toleranz
Tanz die Toleranz 2010, Ⓒ Laurent Ziegler, Brigitte Vettori

Die Kapazität der Toleranz wird unterschätzt

Der Begriff der Toleranz ist entweder nicht hinreichend bekannt oder ihre Kapazität wird maßgeblich unterschätzt. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Anzahl aggressiver Konflikte und Gewalttaten in der Schule, in der Familie und in der Welt nicht abnehmen, sondern Tag für Tag zunehmen, so fällt rasch auf, dass etwas mit unseren Toleranzhaltungen nicht stimmt. Sie funktioniert als Instrument der friedlichen Konfliktlösung derzeit kaum. Und das ist eigentlich kein Wunder. 

Es lassen sich hierzu zwei grobe Unterschiede festmachen: Ein bedeutender Anteil der Gesellschaften der weiten Welt ist entweder intolerant oder praktiziert eine längst veraltete Toleranzweise – für Österreich lässt sich dieser Anteil auf 20-30 Prozent schätzen. 

Und ein bedeutender Anteil westlicher Gesellschaften scheint fest daran zu glauben, tolerant zu sein, bedeute: alles Mögliche zu akzeptieren, ja sogar wertzuschätzen – für Österreich lässt sich dieser Anteil auf 40-45 Prozent schätzen. Das ist allerdings zugleich der Punkt, zu dem bereits viele Menschen einwenden: „Nein, man kann vieles tolerieren, aber Intoleranz sicher nicht“, so der stimmige und mancherorts vielleicht mehrheitsfähige Einwand. 

Toleranzeinstellungen im Kontext der österreichischen Schulen.

Jedoch, wenn es darauf ankommt, Gründe der Ablehnung und Merkmale der Intoleranz auch zu benennen, wissen dann doch nur die wenigsten, wie sie ihre Ablehnung argumentieren beziehungsweise verteidigen sollen. Denn es ist selbst in pluralistischen Gesellschaften kaum bekannt, dass die Grenzen der Toleranz in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (längstens) überwiegend auffindbar sind. 

Nachhaltige Toleranz

Anstatt daraus zu schöpfen und sich daran zu halten, wendet man üblicherweise drei Formen der Toleranz an, derer Nachhaltigkeit fragwürdig ist: Eine an ihrer Effizienz weitüberschätzte und besonders (a) restriktive, autoritäre, im Paradigma der politischen „Leitkultur“ stehende Toleranzweise, die Minderheiten praktisch nichts erlaubt; einen weiteren, etwas unterschätzten und die für die (b) friedliche Koexistenz stark abweichenden Wertevorstellungen stehenden Typus; und drittens kennt man und wendet man gerne die im Paradigma der Postmoderne stehende politischen Toleranzweise an, die beinahe (c) alle bestehende Wertvorstellungen und Kulturen willkommen heißt beziehungsweise wertschätzt.

Es wird in allen drei Fällen allerdings gerne vergessen, dass eine nachhaltige Toleranz sowohl für ihre zustimmenden als auch für ihre ablehnenden Komponenten Argumente bringen muss, die, nach den Maßstäben der Vernunft ausgerichtet, gerecht und demokratisch sind.

Fehlender Pragmatismus

Der beschriebene Toleranzraum ist besonders für Deutschland und Österreich typisch. Maßgeblich durch den Zweiten Weltkrieg bedingt. In den anderen liberalen politischen Systemen, im „Westen“ verhält es sich aber ähnlich, es könnte seien, dass die Willkommenskultur in manchen Ländern etwas geringer ausgeprägt ist. Bewiesen ist es aber noch nicht.


In den anderen Ländern der weiten Welt, im „Osten“, dort, wo keine Demokratie oder ein illiberales politisches System etabliert ist, haben wir mit einem anderen Toleranzraum zu tun – mit einer beinahe spiegelverkehrten Situation. In diesen Ländern gibt es auf der politischen Ebene keine postmoderne Wertschätzungstoleranz: keine politische Willkommenskultur. In diesen Ländern ist die im Paradigma der politischen „Leitkultur“ stehende Toleranzhaltung, die Minderheiten praktisch nichts erlaubt, die gängige politische Vorgangsweise. Hier gilt die so genannte eigene nationale oder religiöse „Identität“, ein „Wir-Zuerst.“ Eine politische Toleranz, die in den westlichen Ländern mittlerweile auch gibt und im Aufkommen begriffen ist – Stichwort Donald Trump und andere.  

Die progressivste politische Toleranzhaltung in den undemokratischen und zum Teil auch in den illiberal geführten Ländern steht im Paradigma der friedlichen Koexistenz – mehr gibt es dort nicht. Um kriegerische Konflikte zu vermeiden, sollte im Sinne dieser Konzeption sowohl die Mehrheit als auch Minderheit – oder wer auch immer sich in einer kriegerischen Situation befindet – ihre jeweilige ideologische Überzeugung (etwa „Identitätsfragen“) aus pragmatischen Gründen zurückfahren. Wenigstens vorübergehend. Aktuell funktioniert in den genannten Systemen aber selbst diese vormoderne, ein bisschen Pragmatismus abverlangende Toleranzhaltung leider auch nicht. Das zurückfahren der Ideologien – momentan vorwiegend die nationale oder religiöse „Identität“, die ohnehin auf falsche Prämisse baut und Kriegsverursacher Nr. 1 ist – will derzeit in einigen Ländern einfach nicht gelingen. Leider.  

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