Die Schule an der Grenze des Wahnsinns

Es handelt sich um eine Rezension von Zoltan Peter zum Tonio Schachingers Roman „Echtzeitalter“. Sie ist ursprünglich in der Zeitschrift Literatur und Kritik (577/578, September 2023. S. 90) erschienen.

Im Tonio Schachingers Roman geht es um das Thema Schule und ihren sozialen Kontext. 

Das Werk als Gesellschaftsroman

Tonio Schachingers zweites Werk als Gesellschaftsroman zu bezeichnen, halte ich für angemessen. Es wurde ein Roman vorgelegt, der über 300 Seiten überwiegend deskriptiv bleibt und sich niemals auf psychologische, selten auf soziologische und sonstige Analysen einlässt. Der Autor geht somit spiegelverkehrt vor wie seinerzeit Robert Musil in seinem vergleichbaren, 1906 erschienenen Werk Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und wie Geza Ottlik in seinem ebenfalls vergleichbaren, 1959 erschienenen Roman Die Schule an der Grenze

Echtzeitalter ist im Unterschied zu den zitierten Werken leicht zu lesen, und es gibt einen weiteren Unterschied: Die Situation, mitunter die Schikanen der Lehrer und Erzieher der zur Diskussion stehenden Schule lassen sich weder mit der von Musil noch mit der von Ottlik beschriebenen Schule vergleichen. Handelt sich doch um grundlegend andere Welten, Strukturen und Wertvorstellungen der Protagonisten. Vor allen Dingen ging es vor 100 Jahren und davor in der Schule physisch ziemlich brutal zu. Das ist Vergangenheit. Eines ist aber gleich geblieben: Die Schule war damals wie heute ein fremdgesteuertes System, ein Spielball der Mächte.  

Die im Zentrum der Erzählung stehende Schule ist gewiss an der Grenze der herkömmlichen Bildungsstätten angesiedelt. Das Theresianum, um das es in dem Roman vorrangig geht, ist eine 1746 von Maria Theresia gestiftete Wiener Privatschule mit integriertem Internat; ein inselhafter Ort der Bildung, der für die meisten Kinder der weiten Welt wegen der monatlich anfallenden, ja unglaublich hohen Kosten unbetretbar ist und wohl noch lange bleibt. Der Autor selbst hatte hingegen das Glück oder Unglück (wir wissen es nicht), zwischen 2002 und 2010 im Theresianum die Schulbank zu drücken. 

Die Makroebene der Erzählung, die 2012 ansetzt und im ereignisreichen Jahr 2020 endet, lässt uns einiges über Österreich, Wien, seine Einwohner und seine Politik erfahren; an einige Dinge können wir uns alle noch gut erinnern, insbesondere an den sogenannten Ibizaskandal und an den Ausbruch der Pandemie. 

Die eigentliche Geschichte wird aus der Sicht mehrerer Protagonisten dargelegt, sodass es vorwiegend zu einer bipolaren Darstellung des einen oder anderen gesellschaftlich relevanten Sachverhaltes kommt. Mit den letzten Zeilen des Werkes, in denen es darum geht, ob die hinter sich gelassenen Schuljahre als gelungene oder misslungene Zeit zu betrachten sind, kommt es noch mal zur Öffnung der Geschichte. 

Es gibt allerdings Beschreibungen, vor allem in den einleitenden Kapiteln, in denen der Erzähler die Schule alleinig in ihrem historischen und soziologischen Kontext verortet. Gleich am Anfang heißt es: „Doch die Deutschnationalen und Rechtsradikalen sind am Marianum nicht stärker vertreten als im Rest Österreichs, wo sie quer durch alle sozialen Klassen circa 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen […].“ 

Hierbei handelt sich um eine weitverbreite Verortung der FPÖ. Sie ist nicht falsch, aber auch nicht ganz genau. 

Es ist gewiss kein geringes Problem, wenn 25 Prozent der Bevölkerung eine rechtspopulistische Partei wählen: In Österreich eben die FPÖ, anderorts AfD, Front National, und über die wirklich Mächtigen darunter ist am besten gar nicht zu reden. Es ist jedoch von Belang, dass „nur“ ein Drittel der FPÖ-Wähler sich als rechtsradikal einstufen lässt (Sora). Erwähnenswert ist indes auch, dass sich in Österreich rund fünf Prozent der Bevölkerung als besonders vorurteilsvoll, mithin rechtsradikal und etwa noch mal so viele als religiös völlig intolerant beschreiben lassen. Dazu kommt ein weiterer, etwa 25 Prozent ausmachender Anteil der Bevölkerung, der zwar etwas mildere, jedoch ebenfalls problematische Vorurteile hat.

Im Kontext der Schule schaut die Situation ähnlich aus. Auf der Basis eigener Erhebungen in den öffentlichen Schulen lässt sich jedoch feststellen, dass das Lehrpersonal deutlich liberaler gesinnt ist als die Schüler und ihre Eltern, und das vor allem aufgrund ihrer pädagogischen Ausbildung. 

Der Raum des Werkes

Im Raum des Werkes kommen zahlreiche Protagonisten mit diversen Gesinnungen zu Wort, wohl auch solche, die in der obigen Beschreibung enthalten sind. Es gibt aber drei Hauptfiguren, die das Werk wesentlich lenken. Dolinar, Till und seine Freundin Feli. Diesen Jugendlichen ist eines gemeinsam: Sie wollen weder Arzt noch Rechtsanwalt werden, wie die meisten Schüler. Zur Minderheit zählen sie auch deshalb, weil alle drei, warum auch immer, Raucher sind. 

Wir möchten nachfolgend erkunden, wie diese drei Protagonisten ticken: Was mögen sie, was lieben sie? Und wie gehen sie mit dem um, was sie nicht mögen?  

Der Deutsch- und Französischlehrer Dolinar präferiert folgende Weltstücke: Literatur, Geschichte, Tradition, Klassik. „Der Dolinar gehört […] zu der Minderheit von Deutschlehrern, die überhaupt noch Zeit für Literatur aufwenden und mit ihren Schülern mehr als die kurzen Textausschnitte im Deutschbuch und den Faust lesen […].“ 

Das klingt doch positiv! Denn Dolinar geht es nicht darum, bloß quantifizierbare Lesekompetenzen der Schüler zu testen (wie die Pisa-Studie), und auch nicht darum, die Schüler mittels Literatur zu unterhalten. „Schüler haben vielmehr ihren Erfahrungshorizont dem anzupassen, was durch den Reclam-Verlag als wertvolle Literatur definiert ist.“ Dolinar will also kanonisiertes Wissen vermitteln und weniger das Rad seitens der Schüler neu erfinden lassen. Er ist allerdings der Ansicht, dass es mit dem Aufkommen der Avantgarde im Literaturbetrieb hinsichtlich der Sprache bergab geht. 

Die literarische Moderne gehört also nicht zu Dolinars Favoriten, und er mag Menschen, die Fußball und Computer spielen auch nicht. 

Nun, wie geht Dolinar damit um? Ziemlich barsch. Er praktiziert sicherlich keine politisch korrekte und keine multikulturalistische Toleranz. Das ist er definitiv nicht. Sind aber seine Zurückweisungen gerecht? Oder steht er einer in der k. u. k. Monarchie noch als modern geltenden, heute jedoch absolut veralteten, autoritär konstituierten Toleranzform nahe – also jener Haltung, die sich bis heute ziemlich schwertut, Minderheiten als gleichberechtigte Bürger zu respektieren? Präferiert Dolinar also eine Art restriktive Erlaubnistoleranz, die auf der politischen Bühne Österreichs hauptsächlich von der FPÖ und zum Teil von ÖVP praktiziert wird? 

Er steht diesem Diskurs jedenfalls nahe. Ob Dolinar in irgendeiner Weise tatsächlich ein FPÖ-Sympathisant ist, wissen wir jedoch nicht. Schenken wir seinem Namen, der als „blauer Vogel“ übersetzt wird, jedoch erhebliche Bedeutung, so wäre er doch ein solcher – zumindest des Autors Intention nach.  

Eines ist sicher, Dolinar ist vielfach antimodern, und man könnte ihm darüber hinaus einiges anlasten, keine Frage. Doch er versucht wie kaum ein anderer den Schülern Wissen beizubringen. Er liefert meistens Belege für das, was er vertritt. Ein Beispiel: Er meint, Handke und Jelinek seien letztlich wertvoll, aber er befasse sich im Unterricht mit ihnen deshalb nicht, weil sie für die Schüler noch zu schwierig seien. Das könnte eigentlich stimmen. Aber es könnte sich genauso um eine Ausrede handeln, um etwa nicht eingestehen zu müssen, dass sie für ihn zu links stehen oder zu modern sind. Argumente ließen sich jedenfalls für beide Lesarten finden. Ganz genau wissen wir es auch nicht. Doch Fakt ist, er steht habituell Bernhard viel näher als Handke und Jelinek. Etwa angesichts der ablehnenden Haltung der SPÖ gegenüber wären Bernhard und Dolinar sich einig. 

Till ist nicht von der Literatur, sondern von Computerspielen begeistert, aber Fußball mag er ebenso wenig wie Dolinar. Er ist aber tolerant, dabei bevorzugt er den Modus der friedlichen Koexistenz widersprüchlicher Welten. Das heißt, es liegt ihm fern, alles auszudiskutieren, zu werten und im Sinne der Vernunft Konflikte zu schlichten. Eine solche Haltung ist aber gesellschaftlich nicht besonders nachhaltig. Sie kann jedoch für ein friedliches Zusammenleben durchaus sorgen, wenn auch nur vorübergehend. „Till ist niemand, der sich in den Vordergrund drängt. Im Gegenteil, Till genießt den Hintergrund.“ 

Seine Freundin Feli, in die er sich im letzten Drittel des Romans glücklich verliebt, wodurch sein Leben und zugleich die Erzählung selbst einen positiven Schwung erhalten, ist hingegen sehr zielstrebig und sozial engagiert, trotz oder gerade wegen ihres Reichtums und des hohen gesellschaftlichen Prestiges ihrer Familie. Sie rebelliert öfter gegen die Schule, woraufhin ihr eine Schulentlassung droht. Sie interessiert sich sehr für die Literatur und sie schreibt auch selbst. Ihre ersten zwei Artikel erscheinen in einer namhaften Zeitschrift und sind erfolgreich. 

Auf eine völlig andere Weise als Dolinar weist sie in einem Streitgespräch Till darauf hin, dass man sich in ihrem Alter, mit 17, 18 Jahren, gut überlegen sollte, was man im Leben will. Denn es sei absolut entscheidend, wofür man sich interessiere, in welchem Umfeld man sich bewege und was man arbeiten wolle. Da ist sie voll auf der Seite von Dolinar: „Ein andermal streiten sie ein bisschen mehr. Till liest gerade Schöne Tage von Franz Innerhofer im Rauchereck, und Feli […] sagt, dass es cool vom Dolinar ist, solche Bücher mit ihnen zu lesen: ‚Unironisch cool.‘ Till sagt nichts. Feli sagt: ‚Er ist vielleicht ein Psycho, aber halt trotzdem ein guter Lehrer, alleine weil er euch so was lesen lässt.‘ Till sagt: ‚Du musst es ja wissen.‘“

Genau, sie muss es tatsächlich wissen. Denn schließlich kennt sich Feli (wie der Autor) in der Literatur ja aus. Dennoch: Für Till war der Deutschlehrer und die ganze Schule die „Hölle“. Für Palffy, eine Nebenfigur, die Dolinar durch Jahre hindurch ebenfalls schikaniert hat, war Dolinar hingegen „cool“ und er vermisst die Schule. 

Der Raum der Schule

Der Roman ist vorwiegend einer feinen Sachlichkeit und einem ausgewogenen Realismus verpflichtet. Deshalb lässt sich abschließend fragen: Wer hat nun recht, Till oder Palffy, und wie ist diese Schule denn wirklich?

Von Dolinar kann man letztlich halten, was man will. Doch Fakt ist, dass viele seiner Schüler in ihm einen guten Lehrer sehen, manche sind ihm sogar dankbar und suchen ihn auch nach vielen Jahren nach dem Schulabschluss immer wieder auf. Womöglich bis heute.

Wie es den anderen Schülern mit der Schule ging oder geht, wissen wir nicht, aber Fakt ist, Till zog die Schule sicher nicht an. Alles spricht dafür, dass er im Theresianum damit zu einer geringen Minderheit gehört. Doch sein Resümee „es war die Hölle“, entspricht einem Standpunkt, den zahlreiche Schüler der weiten Welt mit ihm gewiss teilen würden. Das heißt, es läuft, so können wir Tills Erfahrung gewiss verallgemeinern, bezüglich Schule definitiv einiges falsch. Warum eigentlich?  

Die Schule ist und war niemals und nirgendwo wirklich autonom – auch in den demokratischen Ländern nicht. Sie ist (im leicht auffallenden Unterschied zum künstlerischen und wissenschaftlichen Feld) seit eh und je fremdgesteuert, vorwiegend seitens politischer und wirtschaftlicher Kräfte; und das dermaßen, dass dabei zahlreiche innovative Bildungsansätze und zentrale menschliche Bedürfnisse auf der Strecke bleiben. 

Das Schulsystem und das Feld der Macht

Im Vordergrund steht derzeit die Durchsetzung eines Bildungsprogramms, das maßgeblich dem wirtschaftlichen Wachstum dient und damit dem Glauben, reich an ökonomischem Kapital zu sein, sei der Schlüssel gelingenden gesellschaftlichen und individuell Lebens. Ja, die Krone der Schöpfung schlechthin. Wogegen zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass gelingendes Leben weder mit hohen Positionen noch mit Ressourcenausstattung dermaßen zusammenhängt wie mit dem Vorhandensein intakter Beziehungen. Doch die Fähigkeit, intakte Beziehungen (etwa im Kontext der Schule) zu pflegen, gelingt ohne entsprechende Rahmenbedingen und Sensibilisierungen nicht. Dabei hätte die Schule eine wichtige Rolle. Hätte. 

Denn hätte das Schulsystem im Laufe seiner Geschichte sich mehr Autonomie erkämpft beziehungsweise erhalten, würde die Schule heute die erwähnte pädagogische Rolle, ihren Bildungsauftrag, gewiss besser erfüllen. Mehr noch: Hätte die Politik im Laufe ihrer Geschichte den wichtigsten Erkenntnissen, die von sämtlichen Humanwissenschaften und der Kunst bezüglich gelingenden Lebens bislang produziert wurden, so viel Interesse oder wenigstens Offenheit wie dem ökonomischen Diskurs, sprich der Erzählung des Habens, entgegengebracht, beziehungsweise hätte sie diese humanistischen Erkenntnisse in vergleichbarem Ausmaß in die Politik integriert, würden wir als Gesellschaft oder gar als Menschheit heute gewiss anderswo stehen. Doch ein wohltuender Trost bleibt dennoch: besser spät als nie. 

Zoltan Peter 26.06.23

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