Soziale Dichte und der gute Mensch

Etablierte Mitte-links-Parteien werfen aufstrebenden rechten Parteien Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit vor. Rechte Parteien greifen die dominierenden Mitte-links-Parteien aggressiv an. Sie vertreten unter anderem den Standpunkt, dass zu viele Zuwanderer ins Land gelassen und diese unzureichend integriert wurden. Wie dieser bittere politische Kampf letztlich ausgehen wird, kann niemand vorhersagen. Die Hintergründe dieses Phänomens sind vielschichtig und nicht schwarz-weiß, zwei Aspekte lassen sich aber klar umreißen: die neue soziale Nähe und der politische Umgang damit. 

In allen Ländern der Erde besteht ein unübersehbares Interesse an wirtschaftlicher Expansion. Alle – gleich ob linke oder rechte Parteien – sind sich in einer Frage erstaunlich einig: Die Welt kann am ehesten durch Beschleunigung, Wirtschaftswachstum und somit Konsum stabilisiert werden (vgl. H. Rosa). Und um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, brauche es Zuwanderung auf der einen und unmittelbaren Gewinn bringende Kompetenzen auf der anderen Seite.

Dieses auf Konkurrenz, Expansion und Beherrschung setzende Weltverhältnis ist nicht neu. Neu ist jedoch die dichte Vernetzung zwischen Staaten und Menschen, entstanden durch die globale Wirtschaft und das Internet. Wir sind unmittelbare Zeugen einer rasant gestiegenen, bezaubernden kulturellen und sozialen Diversität – und vor allem in Westen. Gleichzeitig nehmen Radikalisierungen zu. 

Warum eigentlich? Weil die entstandene Nähe zwischen den Staaten und Menschen erhebliche Konflikte hervorruft, die ohne hochgradige Beziehungsfähigkeit (dazu gehören auch Offenheit, Toleranz etc.) nicht zu meistern sind. Man hat in den letzten Jahren übersehen, dass mit der Abnahme der Distanz ein Anstieg der gegenseitigen Abhängigkeit und Verletzbarkeit einhergeht und dass Beziehungsfähigkeit etwas ist, das es zu erlernen gilt. 

Schon Arthur Schopenhauer legte dies in seiner Parabel „Stachelschweine“ (1851) einleuchtend dar, auch Erich Fromm in den 1960ern. Durch Industrie sowie neue Kommunikationsmethoden, so Fromm, werde eine größere Nähe zwischen den Menschen entstehen – die „Eine Welt“: „Allerdings ist es fraglich, ob das Kommen der Einen Welt den Lebenswert steigern wird oder ob alles in einem großen Schlachtfeld enden wird.“ (Funk/Fromm: Humanismus in Krisenzeiten, 2025, S. 211). Anderseits glaubt er, „dass die Verwirklichung einer Welt möglich ist, in der der Mensch Viel sein kann, selbst wenn er wenig hat: in der der vorherrschende Beweggrund seines Lebens nicht das Konsumieren ist; in der der Mensch das erste und das letzte Ziel ist; in der der Mensch den Weg finden kann, seinem Leben einen Sinn zu geben, und in der er auch die Stärke finden kann, frei und illusionslos zu leben.“ (ebda. S. 245).

Das wird mit Sicherheit davon abhängen, ob und welche Informationen die Öffentlichkeit erreichen. Das ist für die Zukunft der Gesellschaft jedenfalls entscheidend, wird aber weder medien- noch bildungspolitisch hinreichend reflektiert. 

Diese „Nähe“, die dichte kulturelle Vielfalt, wird auch in den Kämpfen der politischen Parteien manifest. Linke Parteien verteidigen seit vielen Jahren eine multikulturell geprägte Toleranzhaltung – jene Position, die neuerdings als „Wokeness“ bezeichnet wird.

Auf der anderen Seite steht eine streng autoritäre, im Zeichen der „Leitkultur“ stehende Toleranzhaltung. Rechte Parteien fordern – ähnlich wie in autoritären Systemen – vor allem von Zugewanderten vollständige Anpassung, wenn nicht Rückkehr in das Herkunftsland. In den USA liefert der Slogan „America first“ dazu derzeit Basis und Zündstoff.

Im deutschsprachigen Raum hat die an der Leitkultur orientierte Haltung, jenes „Wir zuerst“, eine weit weniger dominante Rolle inne als in den USA und Osteuropa. Der politische Diskurs in Österreich und Deutschland wird im Großen und Ganzen weiterhin von einer multikulturellen und humanistischen Toleranzhaltung bestimmt. Doch diese an sich positive Haltung, die sich parallel zur „Erinnerungskultur“ nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat, stößt zunehmend auf Widerstand. Und der wiederum führt zur Bildung von Gruppen und Bewegungen, die immer weniger bereit sind, als ungerecht empfundene Entwicklungen respektvoll und argumentativ zurückzuweisen. Stattdessen antworten sie mit Überreaktionen und Gewalttaten.

Die Etablierung solcher häretischer Positionen ist zentrales Anliegen rechter politischer Kräfte. Die Expansion der entgrenzten Toleranz (oder des Werterelativismus liberaler Gesellschaften) kann daher als eine der Ursachen für den Vormarsch rechter Parteien und anderer Radikalismen gesehen werden.

Sich für die Vielfalt auszusprechen, ist an sich zu begrüßen, nur reicht das angesichts der sozialen Dichte, in der wir leben, nicht aus. Die Vielfalt braucht verbindende humanistische Werte, vor allem gegenseitiges Vertrauen und eine nachhaltige Form der Toleranz. 

Aber wie sieht eine moderne, nachhaltige, politisch relevante Toleranz aus? Sie manifestiert sich weder in bloßem Dulden noch in uneingeschränkter Wertschätzung. Sie bedeutet entweder eine auf stichhaltigen Argumenten basierende Akzeptanz oder eine respektvolle, gut begründete Zurückweisung von als fremd oder ungerecht empfundenen Handlungen. 

Weder der Leitkulturansatz noch die (ungezügelte) Wertschätzung stellen dafür die Basis. Um die Radikalisierungsspirale zu stoppen, müsste daher dringend eine differenzierte Haltung zwischen den beiden Polen gefunden werden – eine Art „Kompass“, der sachlich anzeigt, welche Verhaltensweisen demokratisch und welche menschenverachtend sind.

Die Bewertung von Verhaltensweisen sollte auf Grundlage der Grund- und Menschenrechte getroffen und sorgfältig abgewogen werden: Die Argumente für eine bestimmte Haltung – etwa ob Deutschkenntnisse für alle verpflichtend sein sollten – kämen in die Waagschale der „Akzeptanz“, die Gegenargumente in die Waagschale der „Ablehnung“. Ob es dabei zur Zurückweisung kommt, hängt von dem Gewicht der eingebrachten Argumente ab.   

Ideologien sollen und müssen angesichts dieser Abwägungen außen vor bleiben. Besonders schwierig zu bewerten sind daher kulturelle, religiöse und ethnische „Identitätsfragen“ – gerade in Deutschland und Österreich. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es in beiden Ländern nahezu tabu, andere Kulturen überhaupt zum Gegenstand von Analysen zu machen oder sie zu kritisieren. Ihre Wurzeln hat diese Entwicklung – so seltsam es klingen mag – zu einem großen Teil in der nationalsozialistischen Diktatur, genauer in Hitlers mörderischer Politik. Vieles deutet darauf hin, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wandlungsprozess des österreichischen und (west-)deutschen Charakters von (ehemals) narzisstischer Selbstverherrlichung und Expansionsdrang hin zu ausgeprägter Selbstkritik und Fremdenfreundlichkeit vollzogen hat. Es ist durchaus angebracht von einer Art gebrochenem Habitus zu sprechen. 

Selbstverständlich ist eine solche und Freundlichkeit überhaupt ein kostbarer Wert, der keinesfalls verloren gehen darf. In Migrationsfragen ist sie jedoch einseitig und unausgereift. Unsere Fremdenfreundlichkeit braucht eine neue Basis: Sie sollte nicht mehr auf historisch und wirtschaftlich bedingten Glaubenssätzen fußen, sondern auf respektvolle und sachliche Argumente setzen.

Ob und inwiefern die neuen Regierungen in Österreich und Deutschland es schaffen, hier eine neue Balance zu finden, wird sich zeigen.

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