Empirische Untersuchungen von Weltbeziehungen im Schulbetrieb
Der folgende gekürzte Beitrag ist in dem Ende 2022 publizierten Forschungsbericht „Offenheitsaspekte und Toleranzdimensionen der Schule (Die Mittelschulen in soziologischen Zusammenhängen)“ unter dem Kapitel „Zusammenfassung, Diagnosen und Diskussion“ vollständig veröffentlicht worden.
Zitierweise: Peter, Zoltan, Wilczewska, Ina, Zentner, Manfred, Janssen-Wnorowska, Izabela und Tarhan, Arzu Cornelia (2022): Offenheitsaspekte und Toleranzdimensionen der Schule. Die Mittelschulen in soziologischen Zusammenhängen. Bericht im Auftrag des Amts der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Wissenschaft und Forschung. Schriftenreihe Migration und Globalisierung, Krems (Edition Donau-Universität Krems).
Zusammenfassung
Die Mittelschulen fallen öfter durch erhöhte zwischenmenschliche Konflikte auf. Diese Studie sucht nach differenzierten Antworten hinsichtlich dieser Situation. Sie geht empirisch vor und vergleicht die Einstellungen der Lehrkräfte, der Eltern und der Schüler*innen, die über ihre jeweilige Offenheit und Toleranz Auskunft geben. Dabei werden die Einstellungen der Schüler*innen im Vergleich zu den Eltern und den Lehrkräften sowohl quantitativ als qualitativ untersucht, um Ursachen bestehender Konflikte zu lokalisieren.
An diesem Vorhaben wurde vom 1. Oktober 2021 bis am 31. Oktober 2022 gearbeitet. Insgesamt wurden mehr als 1000 Personen in der Analyse berücksichtigt. Dabei wurden 592 Schüler*innen, 292 Eltern und 187 Lehrkräfte mittels Fragebögen befragt. Im Zuge der qualitativen Stichprobe wurden 50 Personen interviewt: 40 Schüler*innen und 10 Lehrkräfte.
Die wichtigsten Ergebnisse: Die Lehrkräfte sind in ihren Weltanschauungen am liberalsten. Sie stimmen zu rund 88 % allen fünf Items der Liberalismus-Skala vollständig oder eher zu, während 1,6 % rassistisch eingestellt sind. Wohingegen 70,6 % der untersuchten Schüler*innen nach denselben Maßstäben als liberal und 3,6% als rassistisch eingestuft werden können.
Die Gruppe der befragten Lehrkräfte weist auch den niedrigsten (beinahe keinen) Hang zum religiösen Fundamentalismus auf. Die Gruppe der Schüler*innen ist im Vergleich dazu deutlich fundamentalistischer.
Drei Viertel der befragten Kinder und Jugendlichen legen ihre eigene Religiosität liberal aus. Der Rest ist in steigendem Ausmaß fundamentalistisch eingestellt – rund 16 % der Kinder und Jugendlichen sind stark davon betroffen.
Der Anteile der potenziellen Konfliktverursacher liegt bei den Lehrkräften bei 12 % und bei den Schüler*innen bei 29 %.
- Wenn der Anteil der SchülerInnen, die (a) eine höhere Zustimmung zu fremdenfeindlichen Einstellungen aufweisen und/oder (b) ihre Religion, Nationalität fanatisch und antidemokratische auslegen, relational hoch ist, sind akute Konflikte vorprogrammiert.
- Wenn der Anteil der Lehrkräfte, die eine höhere Zustimmung für die undemokratische Toleranzweise aufweisen, kaum etwas „Fremdes“ erlauben, relational hoch ist, sind akute Konflikte vorprogrammiert.
- Und wenn es für die aufgezählte Situation relational wenig sozialarbeiterische oder psychologische Unterstützung gibt, sind akute Konflikte vorprogrammiert.
Es ist indes zu berücksichtigen, dass Schülerinnen in ihrer Weltanschauung im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen liberaler und säkularer sind. Und je kontrollierender der Erziehungsstil der Eltern ist, desto fundamentalistischer, illiberaler ist die Einstellungen der Schüler*innen und desto stärker ist auch ihre kollektive Identität ausgeprägt.
Diagnosen und Diskussion
Offenheit
1. […] Offenheit wurde in Bezug auf die präferierten Weltbeziehungen und Weltausschnitte untersucht. Zu den präferierten Weltbeziehungen gehört unter anderem die politische und religiöse Weltanschauung. Liberalismus und Konservatismus stellen zwei gegenseitige Pole der politischen Weltanschauung dar.
Die Ergebnisse zeigen: die Mehrheit der befragten Personen kann als „liberal eingestellt” bezeichnet werden. Unter den drei untersuchten Gruppen (Schüler*innen, Eltern, Lehrkräfte), sind die Lehrkräfte in ihrer Weltanschauung am liberalsten. Blickend auf die einzelnen Dimensionen, die anhand der Liberalismus-Skala gemessen wurden, kann man auf den quantitativen Daten basierend sagen, dass die befragten Lehrkräfte Rassismus eindeutig ablehnen. Sie präferieren fast einstimmig eine freie und säkulare Weltordnung, und unterstützen mehrheitlich das Aufbrechen der traditionellen Rollenbilder durch moderne Familienformen. Es gibt nur vereinzelte Lehrer*innen unter den Befragten, die bei einigen der Dimensionen eine konservativere Sichtweise vertreten. Und keine der Lehrkräfte kann als stark konservativ gedeutet werden. […]
Die klare Mehrheit der befragten Eltern kann ebenfalls als „liberal” oder auch „sehr liberal eingestellt” charakterisiert werden. Diese Gruppe befindet sich in Bezug auf das Ausmaß des Liberalismus allerdings zwischen den Lehrkräften und den Schüler*innen: Die Eltern sind im Vergleich zu den Lehrkräften in einem Wort zusammengefasst „konservativer”. Dies ist zumal ein guter Hinweis darauf, woher die liberale Einstellung einiger Schüler*innen im Allgemeinen nicht stammen kann.
Die Gruppe der Schüler*innen ist im Vergleich zu den anderen zwei Gruppen sehr heterogen, wenn es um das Ausmaß der liberalen Einstellungen geht. Obwohl die Mehrheit liberal eingestellt ist, gibt es auch mehr Personen, die als eher oder auch sehr konservativ eingestellt beschrieben werden können. Im Vergleich zu den Schüler*innen aus den AHS und auch anderen Schultypen ist das durchschnittliche Ausmaß des Liberalismus unter den Schüler*innen, die eine Mittelschule besuchen, am niedrigsten.
In Zahlen ausgedrückt: Die Lehrkräfte sind also am liberalsten. Sie stimmen zu rund 88 % allen fünf Items der Liberalismus-Skala vollständig oder eher zu. Der Rest, sprich 12,4 %, ist in steigendem Ausmaß konservativ bis antiliberal und zu 1,6 % rassistisch eingestellt, indem sie den entsprechenden Items eher oder überhaupt nicht zustimmen. Wohingegen 70,6 % der untersuchten Schüler*innen nach denselben Maßstäben als liberal eingestuft werden können. Der restliche Anteil von 29,4 % ist von Stufe zu Stufe und im steigenden Ausmaß konservativ bis antiliberal und zu 3,6 % rassistisch eingestellt. Den Eltern kommt mit 84 % zwischen den zwei Positionen eine mittlere Stellung zu.
2. Religiöse Weltanschauung wird in der Studie mit dem Fokus auf religiösen Fundamentalismus untersucht, der (ähnlich wie Rassismus) in seiner höheren Ausprägung an liberalen Weltauffassung diametral entgegengesetzt ist und eine extrinsisch, also zweckorientierte, politisch oder sozial gefärbte Auslegung der Religiosität meint – wobei anzumerken ist, dass ein Bekenntnis zu jeder Religion den Hang zum religiösen Fundamentalismus verstärkt; ein Umstand, der aber mit der Rolle, die die Religion im Leben der Befragten spielt, nicht zu verwechseln ist. Auch wenn zwischen den zwei Ebenen starke, aber komplexe Zusammenhänge nachweisbar sind, muss ein bedeutendes Religionsinteresse nicht automatisch dessen fundamentalistische Auslegung bedeuten. Die Fundamentalismus-Skala ermittelt also nicht das Ausmaß der Religiosität, sondern die Auslegung derselben.
Die Struktur der Ergebnisse in Bezug auf die drei untersuchten Gruppen verläuft mit der des Liberalismus analog. Die Gruppe der befragten Lehrkräfte weist den niedrigsten durchschnittlichen Fundamentalismus auf und die Gruppe der Schüler*innen den höchsten. Wobei die Mehrheit aller drei Gruppen nicht als fundamentalistisch bezeichnet werden kann. Aber sowohl in der Gruppe der Eltern als auch der Lehrkräfte gibt es einige Personen, die sich von der Mehrheit durch fundamentalistische Einstellungen unterscheiden. Unter den Schüler*innen ist der Fundamentalismus am stärksten ausgeprägt und das durchschnittliche Ausmaß des religiösen Fundamentalismus ist im Vergleich zu Schüler*innen aus den AHS und auch anderen Schultypen unter den Schüler*innen, die eine Mittelschule besuchen, am höchsten.
In Zahlen ausgedrückt: Drei Viertel der befragten Schüler*innen legen ihre eigene Religiosität liberal aus. Der Rest ist in steigendem Ausmaß fundamentalistisch eingestellt. Und während auf der letzten Stufe der Skala, das heißt im Bereich, in dem den Aussagen gänzlich und eher zugestimmt wurde, 7,8 % der Lehrkräfte in mäßigem Ausmaß fundamentalistisch eingestellt sind, sind rund 16 % der Schüler*innen stark davon betroffen.
Schaut man sich gezielt das wohl schärfste Item der Skala an, nämlich die Aussage: Wenn sich Demokratie und Religion widersprechen, dann liegt die letzte Wahrheit in der Religion, so kommt man auf das folgende Ergebnis: Rund 6 % der Lehrkräfte stimmen der Aussage teilweise sowie 2,7 % eher und voll zu. Dagegen stimmen 28 % der Schüler*innen ihr teilweise sowie 15 % eher und voll zu.
3. Die Sphäre der Identität wurde mit dem Fokus auf eine gruppenbezogene (kollektive) Identität untersucht. Auch hier zeichnet sich die Gruppe der Schüler*innen im Vergleich zu der Gruppe der Eltern und der Lehrkräfte durch die stärkste Ausprägung solcher Identitäten aus. Die Ergebnisse zeigen auch, dass für die Befragten das Bleiben innerhalb der eigenen religiösen Gruppe, wenn es um romantische Beziehungen geht, ein wenig wichtiger als innerhalb der eigenen nationalen Gruppe ist. Analog zum Fundamentalismus ist die durchschnittliche Ausprägung der kollektiven Identitäten in der Gruppe der Schüler*innen, die eine Mittelschule besuchen, am stärksten; und zwar im Vergleich zu den Schüler*innen aus AHS, aber auch anderen Schultypen. Das Gleiche gilt auch in Bezug auf das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit. Die Schüler*innen aus den MS zeichnen sich durch das höchste Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit im Vergleich zu den Schüler*innen aus den AHS und anderen Schultypen aus. […]
Ausmaß der Toleranz
4. Das Ausmaß der Toleranz (die Quantität der Toleranz) wurde in zwei Schritten gemessen. Zuerst wurde gefragt, ob es für die Befragten eine stark störende (Unruhe stiftende) Gruppe, Organisation oder politische Partei in Österreich gibt. Die Mehrheit der Lehrkräfte und der Eltern haben diese Frage mit „Ja” beantwortet. Unter den Schüler*innen hat diese Frage mehr als die Hälfte mit „Nein” beantwortet. Im zweiten Schritt wurden nur Personen befragt, die bei der ersten Frage die Antwort „Ja” gewählt haben. Ihnen wurde eine Liste mit sechs Rollen vorgelegt, die eine Person in der Gesellschaft annehmen kann. Es wurde gefragt, ob sie die Personen, die der von ihnen als störend empfundenen Gruppe angehören, dennoch in den aufgelisteten Rollen als akzeptabel empfinden. Die Antworten wurden zu einem Index zusammengefasst, der das Ausmaß der Toleranz gegenüber den Mitglieder*innen der abgelehnten Gruppe misst. Das durchschnittliche Ausmaß der Toleranz unterscheidet sich nur wenig zwischen den drei Gruppen (Schüler*innen, Eltern, Lehrkräfte) und liegt im unteren Bereich der Skala. Ungefähr ein Drittel der Personen in jeder befragten Gruppe (Schüler*innen, Eltern, Lehrkräfte) zeigt sogar in solchem Fall keine Toleranz in dem Sinne, dass die Gruppenmitglieder in keiner der aufgelisteten Rollen (nicht einmal als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft) akzeptiert würden.
[…] Doch tiefgehende Analysen waren leider nicht möglich, da sie den zeitlichen Rahmen dieser Studie deutlich überschritten hätten. Bereits eine einfache Analyse zeigt jedoch, dass womöglich der Anteil jener Personen, die sehr geringe oder gar keine Toleranz, etwa gegenüber einer ethnischen Gruppe, aufbringen können, relativ klein ist, nämlich 5 %. Denn, wenn wir annehmen, dass sich unter den 30 % der Personen mit keiner Toleranz all diejenigen befinden, die eine radikale und extremistische Gruppe genannt haben, die objektiv und allgemein störend sein kann (das sind in der Stichprobe 22 % der Befragten), so bleiben noch immer mehr als 5 % der Befragten übrig, die keine Toleranz gegenüber einem anderen Gruppentyp zeigen. […]
Qualität der Toleranz
Wertschätzungstoleranz
Die Qualität der Toleranz wurde anhand der Präferenzen für bestimmte Toleranztypen untersucht. Sie beziehen sich auf unterschiedliche Hintergründe für Ablehnung oder Akzeptanz der Einstellungen und Handlungen von Personen oder ganzen Gruppen. Die meisten Schüler*innen bevorzugen die wertschätzende Toleranz am häufigsten. Die Hälfte der befragten Schüler*innen, ungefähr gleich viele Lehrkräften und ein Drittel der befragten Eltern wählen diese Toleranz als jene, die am ehesten ihrer Meinung entspricht. Die wertschätzende Toleranz stellt den Toleranztyp dar, der durch den höchsten Anerkennungsgrad für die kulturelle Vielfalt von allen Toleranztypen charakterisiert ist. Im Vergleich der Schultypen, zeigt sich, dass er unter den Schüler*innen und Eltern aus den AHS noch häufiger als unter Schüler*innen und Eltern aus den MS präferiert wird.
In Zahlen ausgedrückt: Die multikulturalistische Wertschätzungstoleranz ist die beliebteste: Im Schnitt präferieren sie rund 43 % aller Befragten. Diese Art der Toleranz äußert sich in der Zustimmung zu der folgenden Aussage: Alle Kulturen sind gleichwertig, und ich schätze es sehr, wenn es in einem Land viele verschiedene kulturelle Minderheiten gibt. Das bereichert jedes Land. Deswegen heiße ich in Österreich alle Kulturen willkommen.
Dieses Item impliziert leider auch einen gewissen Kulturrelativismus und tendiert zu einer unbegrenzten Toleranzhaltung. In der Auslegung von Markus Gabriel geht der Werterelativismus davon aus, dass es „keinerlei übergreifende Ordnung [gibt], die festlege, welches System moralisch besser sei als ein anderes. […] Für den/die Werterelativist*in gibt es demnach keinerlei Gutes oder Böses an sich, sondern Gutes und Böses immer nur relativ zu einem der vielen Wertesysteme, sodass deren Vertreter einander genau genommen auch nicht anhand eines unabhängigen Maßstabs bewerten können.“[1]
Ein solcher, unabhängiger Maßstab ist gewiss nicht einfach zu erlangen, doch es gibt einige Anhaltspunkte, wie etwa die Grund- und Menschenrechte, von denen heraus die Möglichkeit eröffnet wird, eine Position einzunehmen, die eine gerechtere und kulturunabhängigere Interpretation des/der Bestehenden ermöglicht.
Das Item zur Wertschätzungstoleranz behauptet, alle Kulturen seien gleichwertig – das ist aber mit bestem Willen nicht der Fall, wenn man Kultur als Praxis und Lebensstil fasst. Vielmehr gilt: Alle Menschen und Kulturen sind im Lichte der universalen Menschenrechte vollkommen gleich und gleichwertig. Das heißt, respektvoll geht man dann vor, wenn man von vornherein allen Kulturen gegenüber offen ist. Und falls das eine oder andere an der nämlichen Kultur bei jemandem gewisse Widerständigkeit und Ablehnung auslöst, so ist die Toleranz am Zug. Ob sie gerecht und nachhaltig ausfallen wird, hängt davon ab, ob die Gründe der Zurückweisung im Sinne der Vernunft gerecht ausfallen werden.
Erlaubnistoleranz
Erlaubnistoleranz, die sich durch den niedrigsten Anerkennungsgrad für die kulturelle Vielfalt von allen Toleranztypen charakterisiert, kommt bei den Eltern ex aequo an erster Stelle, und zwar gemeinsam mit der Wertschätzungstoleranz. Bei den Schüler*innen und Lehrkräften ist sie der zweit-bevorzugteste Toleranztyp. Und hier zeichnen sich wieder deutliche Unterschiede zwischen den MS und AHS unter den Schüler*innen und Eltern ab. In den AHS wird dieser Toleranztyp deutlich seltener präferiert als in den MS. Die Unterschiede zwischen den Lehrkräften aus diesen zwei Schultypen sind gering. Qualitative und formelle Gleichheit, die am stärksten an demokratischen Werten angelegt sind, kommen insgesamt an dritter Stelle und werden von ungefähr 15 % der Befragten als die bevorzugten Toleranztypen genannt. Die Unterschiede zwischen den Schultypen sind hier weniger stark ausgeprägt.
In Zahlen ausgedrückt: 17 % der Schüler*innen und 20 % der Lehrkräfte bevorzugen diese restriktive Toleranzart eher und vollständig. Sie lautet wie folgt: Alle Menschen sollten die Sprache und Kultur des Landes, in dem sie leben, kennen. Ich finde daher, Einwandernde (Migranten/Migrantinnen), die sich an die österreichische Kultur nicht anpassen, sollten in ihre (ursprüngliche) Heimat zurückgeschickt werden.
Koexistenztoleranz
Die Koexistenztoleranz stellt den am seltensten präferierten Toleranztyp dar. Dieser Toleranztyp, der eher auf Vermeiden, Ausweichen und weniger auf das Ausdiskutieren von Konflikten ausgerichtet ist und mit einem autoritären Erziehungsstil der Eltern in Zusammenhang steht, wird besonders selten von den Lehrkräften präferiert und am ehesten von den Schüler*innen. Er wird auch ein wenig häufiger unter den Schüler*innen in den MS im Vergleich zu den AHS präferiert.
Natürlich gibt es einleuchtende Gründe, die Koexistenztoleranz nicht zu mögen und auch als historisch gescheitert einzustufen und das sowohl auf der Makro- wie auf der Mikroebene. Zeitgeschichtlich reflektiert, hat die herkömmliche Koexistenztoleranz ihre wohl höchste politische Blütezeit in der Zeit des „Eisernen Vorhangs” gehabt, aber sie ist in vielen autoritär oder illiberal geführten Regimen weiterhin vertreten, und zwar neben der Erlaubnistoleranz, die in solchen Ländern politisch dominant ist: übrigens auch in Osteuropa – etwa in Ländern, die keine Flüchtlinge aufnehmen.
Auf der Mikroebene ist die Koexistenz deshalb als gescheitert anzusehen, weil sie zur Ghettoisierung oder zur Entstehung von parallelgesellschaftlichen Strukturen vieler Gesellschaften beitrug und weiterhin beiträgt. Gleich wie man die Koexistenztoleranz interpretiert, lässt sich neben ihren positiven Merkmalen, die sie ja etwa aufgrund des pragmatischen Zugangs oder eines gewissen „leben-und-leben-Lassen-Aspekts“ hat, ihre Schwäche kaum übersehen; und zwar die mangelhafte Bereitschaft, sich über Differenzen – etwa in Hinblick auf das gute Leben – auszutauschen und dabei das normativ Verbindende zu suchen. Womöglich ist das einer der Gründe, weshalb diese Konzeption unter den Befragten die geringste Sympathie genießt; ein Umstand, der in anderen Studien auch nachgewiesen wurde (zum Beispiel bei Klein und Zick, 2013; Wilczewska und Peter, 2016/2020a; Velthuis et al., 2021).
Determinanten
Als eine der wichtigsten Determinanten der präferierten Einstellungen und Weltbeziehungen hat sich das Geschlechterwiesen, vor allem in der Gruppe der Schüler*innen. Weibliche Schülerinnen sind im Vergleich zu den männlichen liberaler und säkularer in ihrer Weltanschauung. Die kollektive Identität ist bei ihnen auch schwächer ausgeprägt als bei den männlichen Befragten. Das heißt, für sie ist es weniger wichtig, nur innerhalb der eigenen religiösen und nationalen Gruppen romantische Beziehungen zu knüpfen. Auch bei den untersuchten Eltern und Lehrkräften (die in diesem Fall zusammen analysiert wurden) ist das weibliche Geschlecht mit höherem Liberalismus verbunden.
Weder die finanzielle Situation der Familien noch die Ausbildung der Eltern haben sich als relevante Determinanten der Einstellungen der Schüler*innen erwiesen, dafür aber der Erziehungsstil der Eltern. Je kontrollierender der Erziehungsstil der Eltern, umso fundamentalistischer, weniger liberal die Einstellungen der Schüler*innen und desto stärker ausgeprägt die kollektive Identität. Für die Eltern und Lehrkräfte war wiederum das Ausmaß des kulturellen Kapitals von Relevanz. Höheres kulturelles Kapital ist sowohl mit liberaler und säkularer Weltanschauung als auch mit weniger ausgeprägten kollektiven Identitäten verbunden.
Auch Determinanten der Präferenzen für verschiedene Toleranztypen wurden untersucht. Die Ergebnisse sind heterogener als für die besprochenen Einstellungen und Weltbeziehung. Die Präferenzen für einige Toleranztypen, wie Erlaubnistoleranz und Wertschätzungstoleranz, konnten besser erklärt werden als die für andere. Eine der wichtigsten Determinanten dieser Präferenzen ist das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit. Sie ist stark positiv mit Erlaubnistoleranz und stark negativ mit Wertschätzungstoleranz verbunden, d.h. je fremdenfeindlicher jemand eingestellt ist, desto stärker präferiert er/sie die Erlaubnistoleranz und umso weniger die Wertschätzungstoleranz. Dies spiegelt die Anordnung der Toleranztypen nach dem Anerkennungsgrad für kulturelle Unterschiede wider, wonach sich Erlaubnis durch den niedrigsten und Wertschätzung durch den höchsten Anerkennungsgrad auszeichnen. Dieser Zusammenhang ist bei den Eltern und Lehrkräften besonders stark, sodass man die Präferenz „Erlaubnistoleranz“ geradezu als einen Ausdruck fremdenfeindlicher Einstellung sehen kann. Insofern ist es im Allgemeinen als ziemlich problematisch anzusehen, wenn 20 % der befragten Lehrkräfte diesen Toleranztyp stärker bevorzugen. Bei den Erwachsenen ist das fast der einzige Prädiktor für diesen Toleranztyp.
Bei den Schüler*innen hängt die stärkere Präferenz für Erlaubnis auch mit einer konservativeren und säkulareren Weltanschauung und mit stärker ausgeprägten kollektiven Identitäten zusammen. Und, wenn es um die Präferenzen für die Wertschätzungstoleranz geht, ist das Bild fast spiegelverkehrt. Schüler*innen, die diesen Toleranztyp stärker präferieren, sind liberaler und individualistischer (im Sinne von schwach ausgeprägten kollektiven Identitäten) und gegenüber Fremden freundlich eingestellt. Das trifft auch für die Eltern und Lehrkräfte zu. Die gleichen Variablenzusammenhänge bestehen auch für die Präferenzen für die qualitative Gleichheit, sie sind aber nicht so stark wie im Fall der Wertschätzungstoleranz. In der Gruppe der Schüler*innen spielt wiederum das Geschlecht eine relevante Rolle, wobei die weiblichen und diversen Befragten diesen Toleranztyp stärker als die männlichen Befragten bevorzugen. […]
[1] Markus Gabriel. „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten.“ E-Books. S. 95.